Frauenstimmrecht

Rakel Tidermann hat auf Wunsch von Frau Spörri keinen Text über die gemeinsam geführten Gespräche geschrieben. Stattdessen befasste sie sich mit dem Frauenstimmrecht und referiert im folgenden Text zusammenfassend den Inhalt des SRF Dokumentarfilms 1968- Frauen verändern die Gesellschaft.

”Wir wollten die Revolution! Nicht morgen oder übermorgen, sondern sofort!”. Das erzählt die 74-jährige Frauenstimmrechtsaktivistin Andrée Valentin der 28-jährige Feministin Tamara Funiciello. Sie kämpfen beide für die Rechte der Frauen, Valentin als Schlüsselfigur der 68iger-Bewegung, und Funiciello als Präsidentin der Jungsozialisten der Schweiz. Die zwei Frauen begegneten sich zum ersten Mal im Historischen Museum in Bern, um eine Ausstellung über die Schweiz im Jahr 1968 zu besuchen und über das Thema zu reflektieren.

Gemäß Valentin war Zürich in den 40er, 50er und 60-er Jahren „ein trister Ort“, der sehr konservativ und einengend war. Sie erzählt, dass sie immer sehr neugierig und interessiert war, und dass sie die Welt erobern wollte. Folglich wollte sie nie nur eine Ehefrau sein, sondern aktiv an der Gesellschaft teilnehmen. Auch Funiciello kämpft für eine gerechtere Welt, in der alle Leute von Machtstrukturen befreit werden sollten.

 

Aus dem Dokumentarfilm wird klar, dass die Rollen von Mann und Frau bis in die 1960er- Jahre sehr vorbestimmt waren, und dass jeder in der Gesellschaft einen bestimmten Platz hatte. Als Frau ging man zwar schon in die Schule, aber vorzugsweise nicht ins Gymnasium, weil man eine so kurze Ausbildung wie möglich machen sollte. Danach heiratete man und ging dann wegen der Kinder nicht mehr zur Arbeit. Von den Männern wurde erwartet, viel Geld zu verdienen, um die ganze Familie zu unterstützen. Das war allerdings nicht die einzige Sache, die damals sehr anders war als heute; beispielsweise war Sex vor der Ehe ein großes Tabu bis zum Jahre 1968. Nur verheiratete Paare durften zusammenleben, weil es ein sogenanntes Konkubinatsverbot in Teilen der Schweiz gab. Das Verbot wurde in Zürich erst im Jahre 1972 und im Kanton Wallis 1995 aufgehoben. Auch Abtreibung war strafbar. Vor allem aber hatten die Frauen keine politische Stimme. Gemäß einem männlichen Verfechter des Frauenstimmrechts im Video teilten die Schweizer Frauen vor den Wahllokalen „das Schicksal mit den Hunden“. Nach der Meinung eines anderen Mannes gehörten die Frauen ins Haus, nach dem Motto: „Sie sollen Mütter sein und fertig.“ Das Frauenstimmrecht war also ein sehr sensibles Thema, das die Meinungen im Bund teilte.

 

Im Video hebt Valentin ein gewisses Ereignis aus ihrem Leben hervor, das besonders wichtig für die Frauenbewegung gewesen ist. Das Ereignis fand am 75. Jubiläum vom Verband der Frauen für das Stimmrecht statt, an dem Valentin und ihre Freundinnen teilnahmen. Sie wollten Ergebnisse, eine Revolution! In der Mitte der Veranstaltung ergriff Valentin das Mikrofon und verkündete: „Wir sollen nicht jubilieren, sondern protestieren und diskutieren“. Nach dieser Aussprache drohte man ihr, dass man die Veranstaltung beenden würde, wenn sie nicht aufhörte. Sie wurde sogar von der Polizei bedroht. Nach einer Weile jedoch wurden die Diskussionen trotzdem angefangen. Gemäß Valentin kann dieses Ereignis als der Gründungsmoment für die Frauenbefreiungsbewegung betrachtet werden. Ihre Forderungen gingen allerdings viel weiter als nur das Frauenstimmrecht; sie widmeten sich auch Fragen einer gleichberechtigen Ausbildung und Entlöhnung sowie der Veränderung des Vermögens- und Eherechts.

 

Diese Revolution gab es nicht nur in der Schweiz, sondern in ganz Europa und die Gesellschaft war stark vom Kalten Krieg geprägt. In Frankreich gab es große Demonstrationen gegen den Kapitalismus und in Deutschland ärgerte man sich über den Angriff auf den Wortführer der Studentenbewegung in Westdeutschland, Rudi Dutschke. Auch wenn die Demonstrationen in der Schweiz nicht so groß waren, wie zum Beispiel in Frankreich, waren sie oft ausdauernd, laut und kreativ. Was die protestierenden Länder gemeinsam hatten, war aber die Hochachtung vor dem vietnamesischen Revolutionären H? Chí Minh: ”Ho, ho H? Chí Minh rief man in der Straße“. 

 

 

Valentin war der Meinung, dass die 68iger-Bewegung nie so erfolgreich gewesen wäre, wenn es nicht den Vietnamkrieg gegeben hätte. Trotzdem hat der heutige andauernde Krieg in Syrien nicht die gleiche Auswirkung gehabt. Darüber reflektieren Valentin und Funiciello weiter in dem Dokumentarfilm.

 

Die 68iger-Bewegung in der Schweiz war auch stark von Populärkultur geprägt. Insbesondere wurde sie von der englischen Rockband Rolling Stones beeinflusst, die Musik spielte,  die gemäß  vielen als Symbol des Ungehorsam betrachtet wurde. Das negative Bild ging nicht nur von der Musik aus,  sondern auch vom Drogenmissbrauch und damit korrespondierenden Verhaftungen. Nach dem so genannten Monsterkonzert Ende Mai in Zürich mit Jimi Hendrix als Star der Veranstaltung, waren die Menschen wieder so engagiert, dass es schließlich zu Auseinandersetzungen mit der Polizei kam.

 

Nur einen Monat später, am 31. Juni 1968, fand der notorische Globuskrawall statt. Anlass für die Auseinandersetzung war die Forderung der Jugendlichen gegenüber der Stadt, das damals leerstehende Globus Gebäude beim Züricher Hauptbahnhof als Jugendzentrum nutzen zu dürfen. Wegen der Entscheidung des Zürcher Stadtrats, das Gebäude stattdessen anderweitig zu vermieten, gingen die Jugendlichen raus auf die Straßen und besetzten das Gebäude. Dies wiederum führte zu riesigen Krawallen zwischen den jungen Demonstranten und der Polizei. Gemäß Valentin war der Globuskrawall vielleicht die gröbste Auseinandersetzung zwischen Behörden und Autonomen in Laufe der 60iger-Bewegung in der Schweiz.

 

Tatsächlich jedoch, war der Einfluss der 1968er nicht nur politisch, sondern auch gesellschaftlich. Wegen der Revolution wurden neue Dinge plötzlich erlaubt. Ein Beispiel dafür war, dass viele auch nach neuen Lebensformen, in Form von Kommunen, suchten. Dies galt nicht nur für Freunde und Freundinnen, aber auch für Paare, die nach anderen Lebensmodellen fern der Kleinfamilie suchten. 

 

Auch wenn die 68iger-Bewegung viele neue Forderungen stellte, die die Gesellschaft verändert wollten, merkten die Frauen ziemlich schnell, dass die Frauenfrage immer noch im Hintergrund stand. Um gehört zu werden, mussten sie sich also selber engagieren und schlossen sich darum zur Frauenbefreiungsbewegung (FBB) zusammen. Auch Andree Valentin war eine von ihnen – genauer gesagt eine von den Gründerinnen. In einem Video von damals erzählt Valentin, dass sie den Frauen ihre unterdrückte Stellung zu Bewusstsein bringen wollte. Jetzt erzählt Valentin, dass sie sich damals gegen die gleiche Sache wehrte, wie Funiciello heute, nur unter anderen Verhältnissen.

 

Die Forderung, die gleichen gesellschaftlichen Möglichkeiten für Frauen wie Männer zu erreichen, kulminierte schließlich in dem so genannten „Marsch auf Bern“ am 1. März 1969, an welchem rund 5000 Frauen teilnahmen. Der Marsch wurde von Emilie Liebeherr angeführt, die forderte, das Frauenstimm- und Wahlrecht so rasch wie möglich zu verwirklichen. Die große Demonstration schaffte es, die Politiker zu erschrecken: am 7. Februar 1971 fand die letzte „Männerabstimmung“ schließlich statt, bei der 65,7% mit „Ja“ für das Frauenstimmrecht stimmten. Wie die Frauenrechtlerin Gertrud Heinzelmann sagte: „Fortan wird es nur noch Volkabstimmungen geben – im wahren Sinn des Wortes“.



Florida Spörri & Rakel Tiderman